T. Maissen: Die Geburt der Republic

Cover
Titel
Die Geburt der Republic. Staatsverständnis und Repräsentation in der frühneuzeitlichen Eidgenossenschaft


Autor(en)
Maissen, Thomas
Reihe
Historische Semantik 4
Erschienen
Göttingen 2006: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
672 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Bettina Braun

Die Republik und der Republikanismus scheinen – gleichsam natürlich – wie die Berge zur Schweiz zu gehören. Wilhelm Tell und die eidgenössischen Freiheitssymbole gelten als Zeichen eines in der Schweiz seit unvordenklichen Zeiten beheimateten Republikanismus. Aus diesem republikanischen Selbstbewusstsein heraus hätten sich die Eidgenossen gegen die Habsburger und den Kaiser er hoben, so die gängige Interpretation der nationalen Historiographie, die noch in neueren Handbuchdarstellungen durchscheint. Das eidgenössische republikanische Bewusstsein dient damit auch als Erklärung für die Ablösung der eidgenössischen Orte vom Reich, indem das genossenschaftliche Prinzip der Eidgenossenschaft und das aristokratische Prinzip im Reich einander gegenübergestellt werden.

Gegen diese Sicht auf das schweizerische Staatsverständnis wendet sich Maissen bereits im Titel seines Buchs. «Die Geburt der Republic» und ihre Zuordnung zur Frühen Neuzeit bringen zum Ausdruck, dass die Schweiz als Republik weder naturgegeben ist noch aufgrund eines Willensaktes entstand, sondern historisch gewachsen ist und dass der Zeitpunkt der Geburt später liegt, als man gemeinhin annehmen möchte, nämlich in der Frühen Neuzeit. Maissen unternimmt es in seiner Zürcher Habilitationsschrift, diesen Entstehungsprozess in aller Ausführlichkeit darzustellen. Er möchte die Frage beantworten «Wann und weshalb beginnt man in der Eidgenossenschaft von ‘Republik’ zu sprechen, welche Verhaltens- und Denkweisen erhalten zu einem gewissen Zeitpunkt die Etikette ‘republikanisch’?» (S. 33). Methodisch kombiniert Maissen eine Beschreibung der Verfassungszustände mit einem sprachanalytischen Ansatz. Als Grundlage dafür dienen ihm in erster Linie Texte der «mittleren Ebene», also Traktate, Pamphlete, Flugschriften, aber auch Verwaltungsschriftgut und diplomatische Korrespondenz. Durch diese breite Quellenbasis entgeht er der Gefahr, nur eine Blütenlese grosser Denker zu bieten, deren Relevanz für das Staatsverständnis auch nur der politischen Eliten fragwürdig bleiben muss.

Die ersten beiden Kapitel bilden den Rahmen für die in den Kapiteln III–V folgende Darstellung der eidgenössischen Entwicklung. Kapitel I ist überschrieben mit «Das Jahr 1576: Jean Bodin und Josias Simler». Dass eine Untersuchung zur Entstehung von Republikanismus mit dem Vordenker der Souveränität beginnt, mag vielleicht zunächst verwundern. Aber Maissen vermag den engen Zusammenhang beider Konzepte nachzuweisen und kommt zu dem Schluss, dass das deutsche Wort «Republik» die «Souveränität» voraussetzt. Für Bodin bildet die Gesetzgebung den Kern der Souveränität; souverän ist also derjenige, der Gesetze erlassen und verändern kann. Souverän sein können laut Bodin nur Monarchen oder Republiken. Maissen thematisiert also nicht nur die «Geburt der Republic», sondern, weil untrennbar damit verbunden, auch die Rezeption der Bodinschen Souveränitätslehre in der Schweiz. Simlers im gleichen Jahr 1576 wie die «Six livres de la République» erschienenes Werk «Regiment gmeiner loblicher Eydtgnosschafft » führt dagegen die eidgenössischen Freiheiten auf kaiserliche Privilegien zurück. Bodin und Simler stehen damit für das ältere und das neue Konzept eidgenössischen Staatsverständnisses.

Das zweite Kapitel bietet eine tour d’horizon durch die europäische Staatstheorie des 17. Jahrhunderts unter dem Blickwinkel der Bewertung von Republiken im Allgemeinen und der Eidgenossenschaft im Besonderen. Dabei wird im 17. Jahrhundert der Monarchie der Vorzug gegeben, während das Gegenmodell der freistaatlichen Republik als defizitär gilt. Auch das neue Völkerrecht, das die Souveränität als Zugangsberechtigung für die Gemeinschaft gleichberechtigter Staaten definiert, geht von Monarchien als Völkerrechtssubjekten aus. Republiken können nur Aufnahme finden und das heisst konkret, im Zeremoniell als gleichberechtigt behandelt werden, wenn sie souverän sind.

Das dritte Kapitel thematisiert «Die Eidgenossenschaft als Völkerrechtssubjekt». Im Mittelpunkt steht die Mission Wettsteins zum Westfälischen Friedenskongress. Ihre epochale Bedeutung besteht nicht darin, dass 1648 alle Verbindungen zum Reich gekappt worden wären oder dass Kaiser und Reich für die Herrschaftsbegründung in der Schweiz (und folglich auch Reichsinsignien als Herrschaftssymbole) überhaupt keine Rolle mehr gespielt hätten. Entscheidend ist vielmehr, dass die Begriffe «Souveränität» oder «Republik» langsam zu festen Bestandteilen der staatsrechtlichen Diskussionen wurden. Mit dem Eindringen des Souveränitätskonzepts stellte sich allerdings das Problem, ob die Souveränität bei den einzelnen Orten oder bei der Eidgenossenschaft als Ganzes anzusiedeln sei. Dieses Problem konnte auch das allmählich entstehende schweizerische Staatsrecht nicht lösen: In der Theorie war die Antwort vergleichsweise einfach, da die Gesetzgebung eindeutig bei den einzelnen Orten lag; im Verkehr mit anderen Mächten aber musste die Eidgenossenschaft geschlossen auftreten. Solange die Eidgenossen dies nicht taten, wurden sie nicht als gleichwertige Verhandlungspartner akzeptiert. Die deshalb am französischen Hof erfahrenen zeremoniellen Zurücksetzungen zwangen die Eidgenossen, ihre Position neu zu definieren. Diese Bemühungen trugen Früchte: Im 18. Jahrhundert war die Eidgenossenschaft zweifelsfrei Teil der europäischen Staatenwelt und rangierte zeremoniell gleich hinter den Niederlanden. In dieser Zeit entstand auch die Helvetia als Landespersonifikation. Es gehört zu den Vorzügen dieses Buches, dass es neben den Texten stets die bildliche Überlieferung mit einbezieht und in zahlreichen Abbildungen dem Leser vor Augen führt. Denn nirgends wird das Staatsverständnis knapper und eindrücklicher auf den Punkt gebracht als auf Münzen und Siegeln, auf Wappenscheiben und im Bildprogramm von Rathäusern.

Wenn auch die Gesamttendenz der Entwicklung des eidgenössischen Staatsverständnisses in Richtung eines republikanischen Staatsverständnisses auf der Grundlage der Bodinschen Souveränitätslehre eindeutig ist, sind doch die Unterschiede zwischen den einzelnen Orten erheblich. Das erstaunt nicht weiter, da die einzelnen Orte stets auf ihre Eigenständigkeit bedacht waren und in ihrer rechtlichen, konfessionellen und ökonomischen Struktur, aber auch in ihren Verbindungen nach aussen sehr unterschiedlich waren. Insofern kann es das eidgenössische Staatsverständnis ausser als grobe Tendenz nicht geben. Dem Kapitel über die Eidgenossenschaft folgen deshalb konsequenterweise zwei Kapitel über die einzelnen Orte. Dabei nimmt das Kapitel über «Zürich als Paradigma» ungefähr genauso viel Raum ein wie das Kapitel über die anderen Orte und Zugewandten. Für Zürich als Paradigma spricht auch die hervorragende Quellenlage, die es erlaubt, die Entwicklung nicht nur im offiziellen Schrifttum und in der Pamphletistik, sondern ebenso anhand der Diskussionen in den aufklärerischen Sozietäten, den Bildprogrammen städtischer Repräsentativbauten und individueller Biographien aufzuzeigen. Anhand der am Beispiel Zürichs erarbeiteten Kriterien wird dann die Entwicklung in den anderen Kantonen analysiert.

Die Darstellung setzt ein mit der Untersuchung von Zwinglis Staatsverständnis, das sich noch ganz selbstverständlich in den alten Bahnen des Reichsrechts bewegt, aber mit der Annahme, dass eine gottgewollte Obrigkeit hinreichend legitimiert sei, schon den Boden bereitet für die spätere Rezeption der Bodinschen Souveränitätslehre. Für Bodin ist Souveränität verkörpert in der absoluten und dauernden Gewalt einer Republik, d.h. in Gottesunmittelbarkeit und Rechtskontinuität. Für beides sind die Voraussetzungen in Zürich günstig: Zum einen bezweifelt man, dass katholische Herrscher überhaupt souverän sein können, da sie noch den Papst über sich haben; zum anderen ist die Kontinuität in einer Republik eher gegeben, da ein absoluter Monarch gerade aufgrund seiner absoluten Gewalt Brüche verursachen kann. Dennoch dauert es auch in Zürich relativ lange, bis Bodins Souveränitätslehre und republikanisches Denken die Oberhand gewinnen. Erst um 1700 verschwinden die Reichsinsignien in der städtischen Selbstdarstellung. Plastisch wird dies, wenn die alte Standestafel von Hans Asper von 1567, auf der zwei Löwen mit Reichsapfel und Schwert das Wappen mit dem doppelköpfigen Reichsadler und der Kaiserkrone darüber halten, zwar in das 1698 errichtete neue Rathaus mitgenommen wird, dabei aber entscheidend verändert wird: Das Wappen wird übermalt durch einen Freiheitsaltar mit den drei Eidgenossen beim Bundesschwur auf der Frontseite, auf dem Altar liegen Freiheitshut, Merkurstab, Lorbeerkranz und AÅNhrenbündel; der Reichsapfel musste einem Palmzweig weichen. Knapper kann man die Änderungen im Staatsverständnis kaum auf den Punkt bringen.

Die Souveränität besitzt freilich auch eine nach innen gewandte Seite, und diese bedeutet Herrschaft. Damit stellt sich die Frage, wer in einem Gemeinwesen die Souveränität besitzt: In Zürich wie in vielen anderen eidgenössischen Orten kam es darüber zu hartnäckigen Auseinandersetzungen. Die Antworten lauteten durchaus verschieden, nirgends jedoch wurde die Souveränität bei der Gesamtheit des Volkes angesiedelt.

Diese für Zürich ausführlich erörterten Fragen werden anschliessend für die anderen Orte und die Zugewandten abgehandelt, und zwar in der Reihenfolge des Auftretens des neuen Gedankenguts. Es erstaunt nicht, dass den westlichen, stärker von Frankreich beeinflussten Orten dabei eine Vorreiterrolle zukommt. Reformierte Orte rangieren in dieser Abfolge vor katholischen, grössere Städte vor kleinen ländlichen Orten, reichsferne Orte vor reichsnahen. Dennoch gibt es kein eindeutiges Muster, nach dem die Entwicklung abläuft. Vielmehr ist auch mit einem Nebeneinander von Termini und Symbolen (wie z.B. dem Reichsadler und der Selbstbezeichnung als Republik) zu rechnen, die der Staatsrechtler für unvereinbar halten muss. Gegen ein Verständnis, das die frühneuzeitliche Republik entweder als Fortsetzung der mittelalterlichen Genossenschaft oder als Vorläufer der modernen Demokratie sehen will und das damit das freiheitliche Element betont, hebt Maissen die herrschaftliche Seite der Republik hervor.

Mit der Unterwerfung der Republik durch eine andere, nämlich die französische, beginnt dann ihre freiheitliche Uminterpretation. Diesen freiheitlichen Mythos demontiert zu haben, ist das Verdienst des vorliegenden Werkes. Es besitzt deshalb Bedeutung weit über die Kenntnis des geschilderten Zeitraums hinaus.

Zitierweise:
Bettina Braun: Rezension zu: Thomas Maissen: Die Geburt der Republic. Staatsverständnis und Repräsentation in der frühneuzeitlichen Eidgenossenschaft (Historische Semantik 4). Göttingen 2006. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 58 Nr. 4, 2008, 200 S. 468-471.

Redaktion
Autor(en)
Beiträger
Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 58 Nr. 4, 2008, 200 S. 468-471.

Weitere Informationen
Klassifikation
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit